15.
Montagsgebet in der Elisabethkirche:
"Das Wort zur Sache"
von Konrad Görg, gehalten am 1.10.2012
Klinikärzte im
Spannungsfeld zwischen Profit und Patientenwohl
Meine sehr
verehrten Damen und Herren, liebe Freunde,
ich möchte mich ganz
herzlich bedanken, dass ich heute hier zu Ihnen "das Wort zur
Sache" sprechen darf. Und besonders danken möchte ich auch
meinem Quintett "Marburg Brass" und Prof. Weyer an der
Orgel für die so wunderbare Musik.
Gerne hätte ich dort oben
mit musiziert, aber als nun - neben meinem Zwillingsbruder -
dienstältester Arzt am hiesigen Uni-Klinikum fühlt man eben doch so
etwas wie eine moralische Verpflichtung, sich zu diesem wichtigen
Thema hier in diesem Forum zu äußern.
Ich freue mich, dass Sie
so zahlreich erschienen sind.
In den letzten Wochen und
Monaten haben wir zur Situation an unserer Klinik - von den
verschiedensten Standpunkten aus - wichtige Informationen erhalten.
Heute möchte ich das Blickfeld noch einmal ein wenig verändern:
Zunächst durch ein kurzes, selbstkritisches Zurückschauen in die
Vergangenheit. Und mit einer so geschärften Wahrnehmung soll
anschließend die derzeitige Situation am Klinikum betrachtet werden,
und zwar unter besonderer Berücksichtigung unseres neuen
Entlohnungssystems, des Fallpauschalensystems. Als Letztes möchte
ich einige Ausblicke in die zukünftige Entwicklung des Krankenhauses
wagen. Ich gebe zu, was ich zu sagen habe, mag für einige von Ihnen
zu parteiisch sein, zu einseitig. Aber: Manchmal fordern gewisse
Missstände parteiische Stellungsnahmen geradezu heraus, und als
Ärzte müssen wir Partei ergreifen, Partei für die uns anvertrauten
Patientinnen und Patienten. Außerdem: Wenn man gegen einen
ökonomischen Zeitgeist argumentieren will, der immer mehr
Lebensbereiche bestimmt, muss man wirklich tüchtig einseitig
sein.
Ja, genau 33 Jahre sind es her, dass ich 1979 - damals
noch unter Prof. Martini - als junger Assistenzarzt am hiesigen
Klinikum zu arbeiten begann. Lange ist es her! Aber ich werde jetzt
keinen jammervollen und nostalgischen Ton anstimmen, nach dem Motto:
Früher war alles viel besser. Nein! Denn auch damals gab es große
Ungerechtigkeiten wie z. B. Ungleichbehandlungen von Patienten, die
für viele von uns nur schwer auszuhalten waren. Und so werden Sie in
meinen Ausführungen immer wieder auch den einzelnen Arzt finden, der
damals wie heute in einem Spannungsfeld stand und steht: ein
Spannungsfeld zwischen einerseits seiner individuellen Menschlichkeit
und Fürsorge für den Patienten, und andererseits persönlichen oder
von außen einwirkenden finanziellen Interessen.
Hierzu zwei
Begebenheiten - zunächst aus der Vergangenheit:
Es sind schon
viele Jahre her, dass einmal ein Bürgermeister aus einer großen
mittelhessischen Stadt wegen Fieber, Husten und Auswurf in unser
Krankenhaus eingewiesen wurde. Lungenentzündung diagnostizierten wir
Ärzte und nahmen ihn stationär auf. Damals gab es auch einen jungen
Assistenzarzt in der Röntgenabteilung, der täglich in einer kleinen
Kammer Röntgenaufnahmen der Lunge bei Patienten zu machen hatte. So
auch an jenem Tag, als der Chef der Röntgenabteilung plötzlich -
mit besagtem Bürgermeister im Rollstuhl - erschien. Sich vorbei
drängend an einer langen Warteschlange im Flur, schob er auch den
jungen Assistenzarzt beiseite, bugsierte den Bürgermeister zum
Röntgen-Apparat, machte persönlich eine Lungenaufnahme und besprach
anschließend in großer Sorgfalt den Befund mit seinem
Privatpatienten. Nach einer halben Stunde schließlich signalisierte
der Chef seinem Assistenzarzt, nun doch bitte weiterzumachen und die
immer länger werdende Schlange endlich "abzuarbeiten".
So
weit, so gut - oder auch nicht. Der Bürgermeister, als er wieder
genesen und entlassen war, bedankte sich in der Presse aufs
Herzlichste bei den Mitarbeitern für die so fürsorgliche Behandlung
im Krankenhaus."Er könne überhaupt nicht verstehen, dass es
Patienten gäbe, die diese Einrichtung kritisch bewerteten." So
die Worte des Bürgermeisters.
Wir erkennen im Blick auf
diesen Patienten: Jeder sieht nur das, was er sehen kann und sehen
will. Und ich frage mich daher für heute ganz allgemein: Wird es in
unserem Gesundheitswesen jemals eine Veränderung geben, wenn wir
unseren Politikern und anderen wichtigen Entscheidungsträgern
realistische Erfahrungen in unseren Krankenhäusern immer wieder
vorenthalten - eben weil sie Privatpatienten sind? Eine Erfahrung,
wie zum Beispiel diese: 4 Stunden im Notfallbereich zu warten, ohne
einen Arzt gesehen zu haben, um sich dann resigniert, geschwächt und
letztendlich verzweifelt einfach davon zu schleichen, wie es mein
Schwiegervater vor einem Jahr am Klinikum erlebte.
Eine
weitere Geschichte: Einige Jahre später erhielt unser junger
Assistenzarzt - jetzt auf Station - einen Anruf seines Oberarztes, er
möge bitte - auf Geheiß des Chefs - ein Einzelzimmer für einen
Privatpatienten, bei dem einige Untersuchungen zu machen seien,
bereitstellen. Dies war dem Stationsarzt jedoch nicht möglich. Alle
Betten auf seiner Station waren belegt. Und so kam, was kommen
musste: Der Oberarzt erschien auf Station, nahm ein Zweibettzimmer,
entließ die eine der beiden Patientinnen sofort - heute würden wir
dies zynisch blutige Entlassung nennen - und schob die andere
schwerer erkrankte Patientin einfach aus ihrem Zimmer in den
ärztlichen Untersuchungsraum. Der Privatpatient hatte nun sein
Einzelzimmer.
Wir sehen am Verhalten dieser leitenden Ärzte:
Die Scheidewand zwischen Anvertrautsein und Preisgegebensein ist
hauchdünn. Fürsorge und Willkür liegen nahe beieinander. Und wir
erkennen: Auch in der Vergangenheit gab es Ärzte, die korrumpierbar
waren - hier in diesem Fall durch die in unserem Gesundheitssystem
angelegte Möglichkeit, privat liquidieren zu dürfen. Nebenbei: In
Schweden wurde dieses "Zweiklassensystem" - auch aufgrund
solcher Verwerfungen - abgeschafft.
Und wie ist die Situation
heute? Es existiert noch immer ein Unterschied zwischen
Privatpatienten und Kassenpatienten - die Erfahrung von
Ungleichbehandlung hat sicherlich der eine oder die andere von Ihnen
schon gemacht -,Wir haben also dieses alte Problem noch immer nicht
gelöst - so lesen wir in den Zeitungen ganz aktuell, dass
Privatpatienten anscheinend viel schneller Organtransplantate
bekommen als Kassenpatienten - doch stehen heute ganz anders
gelagerte Konflikte im Vordergrund, insbesondere in Marburg
angesichts eines Klinikums in privater Hand. Denn ein börsennotiertes
Unternehmen wie Rhön muss den Spagat eingehen zwischen einer guten
Krankenversorgung und einer hohen Rendite, eine Rendite, welche die
immensen Schulden des Konzerns tilgt und Gewinnausschüttung für die
Aktionäre leisten soll - bei seriöser Betrachtung eigentlich ein
unmögliches Unterfangen.
Wie sich ein derartiger
Interessenskonflikt konkret auswirkt, möchte ich kurz mit einem
Beispiel aus der Gegenwart aufzeigen. Eine der ersten Maßnahmen nach
Übernahme durch den Rhönkonzern war es, aus Kostengründen für
jeweils zwei räumlich sehr nahe - quasi gegenüberliegende Stationen
im Krankenhaus - nachts nur noch eine einzige Krankenschwester
einzusetzen anstatt wie bisher zwei. Diese beiden Pflegekräfte
hatten sich früher bei allen möglichen nächtlichen Problemen auf
den Stationen immer gegenseitig unterstützen können. Jetzt war
folgendes Procedere vorgesehen: Sollten auf den beiden Stationen
schwerkranke Patienten liegen, gab es die Möglichkeit, für die
Nacht aus einem neu angelegten sogenannten Schwesternpool eine zweite
Schwester anzufordern. Das Problem war nur, dass dieser Pool
chronisch unterbesetzt war.
So auch an einem Wochenende im
Frühjahr 2007, als eine alte sterbenskranke Patientin aufgenommen
wurde. Ihr größtes Problem war, dass sie alleinstehend war, dass
sie keinen Angehörigen hatte, der sich nachts im Krankenhaus um sie
hätte kümmern können. So wurde für die Nacht aus besagtem Pool
eine zweite Schwester angefordert, aber der Pool war - wie nicht
anders zu erwarten - wieder einmal leer. Notgedrungen schob die
Nachtschwester die sterbende Frau aus ihrem Zimmer auf den hell
erleuchteten Stationsflur, um sie des Nachts bei ihren Rundgängen
doch noch ab und zu ein wenig im Auge zu haben. In dieser menschlich
untragbaren Situation ist unsere Patientin in ihrer dritten Nacht auf
dem Flur verstorben.
Nach einem solchen Ereignis mussten wir
Ärzte uns selbst anklagen, weil wir nicht rechtzeitig diese
strukturelle Misere erkannt hatten. Aber wir haben nach diesem
Vorfall verspätet dann doch noch gehandelt und einen Beschwerdebrief
aufgesetzt. Ja, und wenige Tage später wurde diese
Nachtwachenanordnung in der Tat rückgängig gemacht, sodass wieder
jede einzelne Station ihre eigene Nachtschwester bekam. Der
Rhönkonzern hatte also auf unsere Beschwerde hin reagiert. Der
Sparzwang zu Lasten von Patienten wurde in diesem Falle
aufgehoben.
Doch machen wir uns für die Zukunft nichts vor.
Gesellschaftliche Subsysteme - wie man Krankenhauskonzerne
soziologisch nennen kann - werden heute durch den Code "Geld"
gesteuert. In einem solchen Subsystem kann Ethik nur bedingt
handlungswirksam werden, da der Code "Moral" mit Signalen
wie "gut" und "böse" kompatibel ist, aber nicht
mit dem Code "Geld". Mit anderen Worten: Unternehmen, die
vornehmlich nach moralischen Überlegungen in unserem
Wirtschaftssystem handeln, werden vom Markt gnadenlos mit Untergang
bestraft. Oder sie werden zu einem Spielball, zu einem Objekt der
Begierde von Großkonzernen, von sogenannten "Global Players"
der Marktbranche, ganz nach dem Motto der kapitalistischen
Konkurrenzideologie: Fressen oder Gefressenwerden.
Entschuldigen
Sie bitte die letzten harten Worte, aber wir müssen wieder lernen,
die Dinge richtig beim Namen zu nennen. Dieses Dilemma ist natürlich
nicht nur auf den Rhönkonzern begrenzt. Alle Krankenhäuser,
städtische, staatliche und auch kirchliche, unterliegen heute einem
zunehmenden Kosten-Nutzen-Kalkül. Unmenschliche Arbeitsbedingungen
für die Mitarbeiter, Stellenabbau, Entlassungen, Ausgliederung in
den Billiglohnsektor und Überlastungsanzeigen im Pflegebereich sind
die Folge und ich frage mich: Wo bleibt in diesem kommerzialisierten
System überhaupt noch die Zeit - und vielleicht demnächst auch die
Fähigkeit - für das Gespräch am Krankenbett? Empathie, menschliche
Wärme und Fürsorge für den Kranken werden heute ersetzt durch
einen möglichst reibungslosen Service an einem
Dienstleistungskunden. Wir haben hierüber in dieser Kirche in den
letzten Wochen schon vieles und wichtiges erfahren. Manche
Krankenhäuser meinen nun, den enormen wirtschaftlichen Druck, dem
sie ausgesetzt sind, über das sogenannte "Fallpauschalensystem"
entschärfen zu können Und hier erscheint am Horizont eine neue,
weitere, schreckliche Form der Zwei-Klassen-Medizin.
Dies muss
ich etwas genauer erklären: Seit 2003 erfolgt in Deutschland die
Abrechnung stationärer Leistungen am Patienten nicht mehr über den
früheren Krankenhaustagessatz, sondern über eine für die jeweilige
Erkrankung des Patienten bundesweit festgelegte Fallpauschale. Mit
der Einführung dieses Systems gibt es für gewisse - ich betone: für
gewisse Krankenhäuser nun eine Möglichkeit, in die Gewinnzone zu
kommen. Man unterscheidet heute nämlich nicht mehr so sehr zwischen
lukrativen Privatpatienten und armen Kassenpatienten, sondern
zwischen Erkrankungen, Erkrankungen, mit denen man Geld verdienen
kann und solchen, mit denen man Verluste macht. Amerikanische
Gesundheitsmanager unterscheiden in ihrer pragmatischen und etwas
schnoddrigen Art zwischen "cash cows" und "poor dogs".
Cash cows - also Kühe, die man melken kann - sind Patienten mit
Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus Gewinne erzielt, wo technisch
aufwändige Maßnahmen durchgeführt werden, wie z. B. Hüft- und
Kniegelenkprothesen-OPs, Nieren- und Knochenmarktransplantationen, um
nur einige wenige zu nennen. Poor dogs sind Patienten mit
Krankheiten, bei denen ein Krankenhaus kein Geld verdienen kann, wo
es immer draufzahlen muss. Solche armen Hunde sind für Kliniken -
wirtschaftlich gesehen - absolut unattraktiv. Zu ihnen zählen u.a.
alte Patienten, Patienten mit vielen Krankheiten und chronisch
Kranke, wie z.B. Patienten mit chronisch offenen Beinen oder
Patienten, die sich wund gelegen haben oder auch Rheumatiker.
Eine
wichtige, ja eine ganz entscheidende Frage ist nun: Wie werden wir
Ärzte uns in der Zukunft verhalten, wenn bei unseren Patienten
solche Unterscheidungen durch unsere Verwaltungen vorgegeben werden?
Ein guter Freund, Chefarzt eines nahe gelegenen, privaten
Krankenhauses erzählte mir kürzlich eine Begebenheit: Zum
Jahresende wurde er von seinem Kaufmännischen Direktor über das
Ergebnis der Jahresabrechnung informiert: "Lieber Professor",
begann der Direktor, "bei 70 % der Patienten konnten wir nach
Einführung des Fallpauschalensystems einen Gewinn erzielen, bei 30%
haben wir jedoch deutlich rote Zahlen geschrieben. Ich freue mich,
dass wir trotz allem insgesamt ein kleines Plus erwirtschaftet
haben." - Erleichterung machte sich auf dem Gesicht des Arztes
breit. - Doch dann: "Bevor Sie nun wieder gehen lieber Herr
Professor, habe ich nur noch eine kleine Frage: Nennen Sie mir doch
bitte ein wirtschaftliches Argument, warum ich jene 30%
Verlust-Patienten - wir wissen beide, welche Krankheiten sie haben -
im neuen Jahr noch aufnehmen und behandeln lassen soll."
Zunächst etwas irritiert, antwortete mein Freund dann: "Das
wirtschaftliche Argument bin ich! In dem Augenblick, wo Sie dies
machen, kündige ich sofort." Diese Antwort verdient
Anerkennung, zeugt sie doch von einem humanen Ethos dieses
Chefarztes, eines Arztes, der sich nicht korrumpieren ließ.
Ein
weiteres Beispiel: In einem katholischen Krankenhaus in Mittelhessen
weigert sich der leitende Chirurg, allgemein-notfallchirurgische
Aufnahmen aus der Stadt anzunehmen, wie Verkehrsunfälle,
Knochenbrüche, u.s.w. Er wolle sich nur noch auf Operationen von
Hüft- und Kniegelenkprothesen konzentrieren, die sehr lukrativ sind.
Dieses Krankenhaus prosperierte nach wenigen Monaten, wurde gesund,
konnte sogar expandieren. Ob es vielleicht auch an die Börse
geht?
Was lernen wir aus diesen Beispielen? Einmal, dass
manche Ärzte auch heute korrumpierbar sind. Zum anderen: Es besteht
in unseren Krankenhäusern eine prinzipielle Gefahr der sogenannten
"Schnäppchenmedizin", die dazu führt, dass finanziell
attraktive Patienten bevorzugt werden. Und das Perverse ist: Ein
Krankenhaus, das nur noch solche "cash-cow-Patienten"
aufnimmt, kann diesen dann selbstverständlich auch eine gute und
umfassende pflegerische Betreuung zukommen lassen. Aber eben nur
diesen handverlesenen Patienten. Unattraktive Patienten dagegen
werden in andere Krankenhäuser abgeschoben. Aber wer wird sie
aufnehmen? Unser Gesundheitssystem sieht nun vor, dass diese
Patienten von sogenannten Krankenhäusern der Erstversorgung, also
von staatlichen oder kommunalen Krankenhäusern aufgenommen werden, -
ja aufgenommen werden müssen, denn nach bestehendem Recht dürfen
Krankenhäuser der Erstversorgung niemanden ablehnen.
So
finden wir dann auch hier ein uns bekanntes Muster: Gewinne werden
privatisiert, Verluste sollen sozialisiert werden. Eine erschreckende
Entwicklung bahnt sich hier seit geraumer Zeit an: Nach Ansicht von
Experten werden in 10 Jahren die Hälfte aller hoch spezialisierten
Kliniken - und das sind die Häuser, die teure, aufwändige und damit
äußerst gewinnträchtige Leistungen anbieten - in Form von
Aktiengesellschaften geführt werden. Kann man das aus
gesamtgesellschaftlicher Verantwortung wollen?
Zurück nach
Marburg: Zum Glück gibt es für die Uniklinik in Marburg für dieses
letztgenannte Problem der Schnäppchenmedizin derzeit eine
Entwarnung: Noch!! Denn unser Klinikum ist sowohl ein Krankenhaus der
Erst- als auch der Maximalversorgung. Bei uns muss jeder aufgenommen
werden und es wird auch jeder aufgenommen, egal ob man nun cash cow
oder poor dog ist. Hier wird niemand abgewiesen. Und ich hoffe sehr,
dass dies auch so bleiben wird. Eine sogenannte "Portalmedizin",
bei der am Eingang einer Klinik Ärzte nach kommerziellen
Gesichtspunkten über eine Aufnahme entscheiden, gibt es in Marburg
nicht und Rhön will dies wohl auch nicht, derzeit. Doch in den
Hochglanzbroschüren des Rhön-Konzerns finden wir allzu häufig ein
Schlüsselwort, nämlich "Teleportalmedizin". Hier kann
über sogenannte mediale Vernetzungen im Voraus entschieden werden,
welches Krankenhaus welchen Patienten mit welcher Krankheit aufnehmen
soll. Dies mag eine mögliche Richtung sein, wie sich unser Klinikum
in Zukunft weiterentwickeln könnte.
Eugen Münch -
Unternehmensgründer der Rhön-Klinikum AG - hatte dieses Problem
natürlich früh erkannt und formulierte in diesem Zusammenhang schon
2005 in seiner bekannten, etwas flapsigen Art: "Tatsächlich
muss die Universitätsklinik zu viele "leichte" Patienten
betreuen, die in zu teuren Betten liegen. Es ist ein bisschen so, als
wolle die Klinik mit Rolls-Royce-Limousinen Personen-Nahverkehr
betreiben." Hier müssen wir in der Zukunft alle äußerst auf
der Hut sein.
Zurück zur Gegenwart. Das Fallpauschalensystem
bietet aber noch eine weitere Möglichkeit, einen Gewinn zu erzielen.
Nämlich dadurch, dass es aus einigen poor dogs doch noch eine cash
cow machen kann. Und dies geschieht durch eine radikale Veränderung
der Zeitabläufe in einer Klinik. Weil Zeit Geld ist, muss alles
immer schneller gehen. Die Arbeit wird verdichtet, die Leistung
dadurch immer weiter erhöht. Durch eine solche Beschleunigung aller
Zeitabläufe - besonders im stationären Klinikbereich - entstehen
für unsere Patienten u.a. immer kürzere Liegezeiten. Ja, und so
kann - nur mal als Beispiel - aus einem Patienten mit einer
Lungenentzündung, der vielleicht eine oder zwei Wochen im
Krankenhaus liegt und damit nach der Fallpauschalenentlohnung ein
poor dog ist, bei einem stationären Aufenthalt von lediglich 3 Tagen
eine lukrative cash cow werden. Für manche, besonders jüngere
Patienten mögen diese verkürzten Liegezeiten u. U. sinnvoll sein -
wer ist nicht froh, wenn er früher nach Hause entlassen wird - doch
vor allem bei älteren Menschen können solche vorzeitigen
Entlassungen fatale Auswirkungen haben.
Aufschlussreich ist in
diesem Zusammenhang eine Studie aus den USA, die an der University
School of Medicine in Connecticut durchgeführt wurde. Darin wurden
die Behandlungsdaten von alten Patienten mit Lungenentzündung aus
den Jahren 1992 und 1997 analysiert, vor und nach der Einführung von
Fallpauschalen. Es zeigte sich in der Tat, dass die Verweildauer mit
dem neuen System durchschnittlich um 35 Prozent zurückging. Die
Krankenhauskosten pro Fall verringerten sich um 25 Prozent. Die
Sterblichkeit im Krankenhaus ging um 15 Prozent zurück. Jedoch: bei
Ausweitung der Untersuchung auf die ersten 30 Tage nach der
Entlassung stellte man fest, dass hier die Sterblichkeit um 35
Prozent gestiegen war. Die Wiederaufnahmen wegen eines Rückfalls
nahmen um 23 Prozent zu und die Verlegung in eine Pflegeeinrichtung
sogar um 42 Prozent. Diese Zahlen belegen für den Fall der
Lungenentzündung bei alten Menschen eine eindeutige Verschlechterung
der Behandlungsqualität durch das neue Fallpauschalensystem. Alle
Verantwortlichen müssen sich über diese Gefahren im Klaren
sein.
Was lernen wir daraus? Es gehört anscheinend zum Wesen
unseres ökonomischen Fortschritts, dass er die Schwächsten einer
Gesellschaft, die Alten, die Kinder und die chronisch Kranken zuerst
schlägt. Ich frage nun noch einmal: Werden wir Ärzte in Zukunft dem
zunehmenden Druck standhalten, der durch ein solch kommerzialisiertes
Gesundheitssystem auf uns ausgeübt wird? Und wir sollten uns im
Klaren sein: Rhön ist in diesem System eine Speerspitze. Doch
fairerweise muss man derzeit feststellen: Noch mischt sich Rhön
weder bei unseren Patientenaufnahmen ein, geschweige denn in unsere
ärztlichen Maßnahmen. Hier sind wir Assistenzärzte und ich hoffe
doch auch unsere Chefärzte für die Zukunft absolut frei und
unabhängig.
Warum nur ein Hoffen? Weil in den letzten Jahren
an zahlreichen privaten Krankenhäusern sogenannte
"Chefarzt-Boni-Verträge" abgeschlossen wurden, Verträge,
die wir bisher nur aus der Finanz- und Bankenwelt kennen und leider
auch fürchten gelernt haben. Bei diesen Zahlungen erhält der
Chefarzt am Jahresende ein Extra-Honorar, d. h. einen Bonus, wenn er
eine bestimmte Anzahl von speziellen medizinischen Leistungen
erbracht hat, Leistungen nämlich, die für den Klinikbetreiber
äußerst profitabel sind, wie z. B. die uns schon bekannten
Implantationen von Hüft- oder Kniegelenkprothesen, oder aber auch
Herzkatheteruntersuchungen. Problematisch wird es nun, wenn eine
solche gewinnträchtige Behandlung für den betroffenen Patienten -
medizinisch gesehen - gar nicht sinnvoll oder notwendig ist, sie aber
dennoch, aufgrund des finanziellen Anreizes, vorgenommen wird. Aus
diesem Grunde stellen solche Chefarzt-Boni-Verträge in meinen Augen
eine weitere, schlimme Form der Korrumpierbarkeit von Ärzten dar.
Auch wenn ich derzeit an unserer Klinik - nämlich schwarz auf weiß
- noch von keinen solchen Verträgen weiß, ist ernsthaft - wirklich
ernsthaft - anzunehmen, dass auch Rhön zu einer solchen Praxis
übergehen wird - oder sie vielleicht gar schon praktiziert. Und so
ist eindringlich zu fragen:
Wie werden sich in der Zukunft
unsere Chefärzte, die Direktoren unserer Klinikabteilungen,
verhalten, wenn ihnen solche Bonus-Zahlungen von Rhön angeboten
werden? Denn eine wirklich schreckliche Situation würde eintreten,
wenn irgendwann unsere Patienten - egal ob im Einzelfall berechtigt
oder unberechtigt - hinter unseren individuellen ärztlichen
Maßnahmen, eine verborgene, unausgesprochene, geldgesteuerte
Handlungsanweisung vermuten könnten. Ein Horrorszenario für unsere
ärztliche Ethik, denn wir Ärzte sind und bleiben dem "Eid des
Hippokrates" verpflichtet, in dem die Fürsorge für den
Patienten über alles andere gestellt ist.
Ich komme zum
Schluss, fasse zusammen und ordne politisch ein:
1. Wir Ärzte
beginnen langsam zu lernen, dass in einer marktorientierten Medizin
die Vorrangstellung des Patienten zunehmend einer Einflussnahme von
Investoren, Bürokraten, Versicherungsgesellschaften und
Krankenhausträgern weicht. In dem Augenblick jedoch, in dem
ärztliche Fürsorge dem Profit dient - egal ob dem eigenen oder
einem fremden -, hat sie die wahre Fürsorge verraten. Dieser
moralische Irrweg lässt sich nicht mehr reparieren.
2. Für
uns Marburger Bürger sollte klar sein, dass sich in unserer
derzeitigen lokalen Auseinandersetzung ein gesamtgesellschaftlicher
Kampf um die Zukunft unseres Zusammenlebens widerspiegelt. Wollen wir
eine durchökonomisierte, marktkonforme Gesellschaft, in der das
Verwertbarkeits-, Effizienz- und Nützlichkeitsdenken der Wirtschaft
auch in die letzten Winkel unseres Lebens kriecht, wo aus allen
zwischenmenschlichen Beziehungen nur noch Leistungen werden, die
entweder gekauft oder verkauft werden können? Es geht letztlich
damit auch um die ganz prinzipielle Frage, ob bisher fürsorglich von
der Allgemeinheit verwaltete Bereiche wie Gesundheit, Bildung, Rente,
öffentlicher Nahverkehr, Wasser und Energie vom Staat privatisiert
werden dürfen, und damit der Gier von solchen
Shareholder-Value-Vertretern ausgeliefert werden. Ich persönlich
halte den Sozialstaat - trotz all seiner uns bekannten Mängel - für
eine der größten europäischen Kulturleistungen und es ist nicht
hinnehmbar, wenn der Sozialstaat, also die organisierte Solidarität,
immer weiter zurückgedrängt wird.
3. Die Politik sei daran
erinnert, dass der Fisch vom Kopf her stinkt. Und diesen Kopf bilden
einige unsere politischen Repräsentanten, die die reale effektive
Macht in die Hände der Finanzmärkte und in die Hände global
agierender Wirtschaftskonzerne gelegt haben und die in den letzten
Jahrzehnten durch eine fragwürdige Steuerpolitik die öffentliche
Hand bewusst in die Armut getrieben haben, ohne zu bedenken, dass
sich einen armen Staat nur der Reiche leisten kann. Und ein zweites:
Wer den Staat so enorm schwächt, schwächt letztendlich auch unsere
Demokratie, bis hin zu einer reinen Fassadendemokratie.
4.
Daher fordern wir Marburger Bürger für unseren Fall, dass die
Politik endlich wieder - im Sinne einer demokratischen Einflussnahme
- zu einem Akteur in diesem derzeitigen Theater wird. Und wenn die
Politiker - aus welchen Gründen auch immer - dieses Primat der
Politik nicht durchsetzen wollen, wird uns wohl nichts anderes übrig
bleiben, als mit langem Atem und großer Geduld uns weiterhin jeden
Montag - als Zeichen einer demokratischen Selbstermächtigung -
solidarisch zu empören.
5. Ja, und persönlich wünsche ich
mir für die Zukunft - auch in Ihrer aller Interesse -, dass, wenn
ich eines Tages als Patient in unsere Klinik eingewiesen werden
sollte, ich nicht am Eingang mittels eines sogenannten
"Teleportalsystems" von Rhön, Helios, Sana oder von wem
auch immer, erfasst und verschoben werde oder vielleicht als "cash
cow" in eine "Chefarzt-Boni-Statistik" aufgenommen
werde, sondern ich wünsche mir, dass dann dort am Eingang unserer -
hoffentlich wieder in gemeinnützig-öffentlicher Trägerschaft
geführten - Klinik eine Tafel angebracht worden ist, eine Tafel, so
wie es Kaiser Joseph II - ein Sohn der Kaiserin Maria Theresia - im
Foyer der 1784 in Wien neu errichteten Frauenklinik tat, eine Tafel
mit folgender Aufschrift: In diesem Haus sollen die Patienten geheilt
und getröstet werden.
Ich danke Ihnen.